Ganz viele kleine Tropfen, die zusammenkommen, um etwas bewirken zu können.

Katharina Oguntoye ist eine Afro-Deutsche Schriftstellerin, Historikerin, Aktivistin und Dichterin. Sie gründete den gemeinnützigen interkulturellen Verein Joliba in Deutschland und ist bekannt für die Mitherausgabe des Buches Farbe bekennen [1]. Außerdem hat Katharina Oguntoye hat eine wichtige Rolle in der Afro-Deutsche Bewegung gespielt

Mathilde: Was bedeutet es für dein Leben Aktivistin zu sein? Gab es ein Moment in deinem Leben, in dem dir klar wurde, ich muss mich da engagieren, ich muss aktiv werden, um die ungerechte Situation, die ich beobachte, zu verbessern?

Katharina: May Ayim und ich haben 1986 „Farbe bekennen, Afro-Deutsche Frauen auf die Spuren ihrer Geschichte“ herausgegeben und das war das erste Buch zu schwarzen Menschen in Deutschland. Es war auch die erste schriftliche Verwendung des Begriffs Afro-Deutsch. Es gab zwei ältere Frauen von 60 und 65 Jahren, die mitgeschrieben haben und die jüngste war 14 Jahre. Das heißt, wir konnten auf eine Geschichte zurückblicken. Die älteren Schreiberinnen waren Schülerinnen und wurden junge Erwachsene in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Jüngste sprach über ihre eigenen Erfahrungen als junge Erwachsene. Als Historikerin habe ich mir zur Aufgabe gesetzt, diese gelebten Geschichten zu verifizieren. Die so genannte ’Oral History‘, die als Familientradition erzählt wurde, um diese Geschichten in den Kontext von belegter Geschichte zu setzen. Wir haben zwei Jahre daran gearbeitet und unser Hauptziel war es ein Buch zu machen. Das Buch ist nur entstanden, weil es ein Projekt in der Frauenbewegung war und wurde dann von einem kleinen, feministischen Verlag angenommen. Ein größerer Verlag hätte das nicht angenommen. Die hätten gesagt, das Thema Rassismus ist viel zu kompliziert und so weiter.

Mathilde: Gab es da für dich jemanden zwischen den verschiedenen feministischen Stimmen mit dem du dich, als Afro-deutsche, identifizieren konntest?

Katharina: Audre Lorde war damals, 1984, in Berlin und hat an der Freien Universität gelehrt. Sie hat uns, May Ayim und mich aufgefordert, uns als schwarze Frauen mit unseren Erfahrungen, untereinander und auch der Welt vorzustellen. Dieser Auftrag war etwas ganz Besonderes für uns. Wir waren damals jung, 23 und 25. In diesem Alter aufgefordert zu werden, für eine große Gruppe zu sprechen, war eine große Herausforderung, aber es war klar, dass wir diese Chance ergreifen sollen. Auch, weil wir uns sonst auch später nicht beschweren könnten und sagen, dass andere alles falsch machen, oder wenn andere für uns sprechen würden.

In der Zeit hatte man in Deutschland angefangen, über Ausländerfeindlichkeit nachzudenken. Es wurde langsam wahrgenommen, dass türkische Gastarbeiter*innen zu Mitbürger*innen erklärt wurden. Aber kein Mensch hatte daran gedacht, dass die Geschichte des deutschen Kolonialismus auch etwas für schwarze Menschen in Deutschland bedeutete. Dass nicht nur in den Kolonien schwarze Menschen sind, sondern auch in den Metropolen in Deutschland sind und da ihren Lebensschwerpunkt haben.
Es war dann wichtig, dass wir als Gruppe im Anschluss an das Buch “Farbe bekennen”, diese Begrifflichkeit Afro-deutsche und Schwarze Deutsche entwickelt haben, um zu sagen, wir sind hier sozialisiert in Deutschland, wir sind hier auch zu Hause und ansonsten haben wir gleiche Rechte. Wir können hierbleiben, wir können hier weggehen. Das ist eigentlich selbstverständlich. Wahrscheinlich wachsen immer noch kleine Kinder damit auf, dass Leuten zu ihnen sagen: „Warum sprichst du so gut Deutsch und wann willst du denn in das Land deines Papas gehen?“ Das war die Realität, die Vereinzelung, die Stigmatisierung, die Vorteile und dem wollten wir eben Wissen entgegensetzen und Reflexion.
Als wir uns dafür in der Zeit in der Initiative „Schwarze Deutsche“ mit ca. 30 Leuten getroffen haben, wurden hauptsächlich Themen verhandelt, was bedeutet es eigentlich, in unseren Leben Afro-deutsche zu sein? Wir haben uns zuerst mal auf diesen Begriff geeinigt, aber haben dann auch in der Gruppe diskutiert, warum manche lieber Schwarze Deutsche sagen, weil sie sich nicht auf ihren Afrikanischen Hintergrund aber auf ihren Amerikanischen Hintergrund beziehen wollen. Wir haben dann gesagt, dass beides möglich ist, aber dass keiner von uns das „N-Wort“ akzeptieren wird. Und das hat auch gehalten. Das finde ich faszinierend, dass in solchen Grassroots-Bewegungen solche Entscheidungen bearbeitet werden und auch funktionieren.

Mathilde: Was hat die Arbeit für dich persönlich bedeutet? Und was habt ihr erreicht? Was war im Rückblick zentral, um Änderungen herbeizuführen?

Katharina: Für mich, als eine der Älteren in der Initiative „Schwarze Deutsche“, war es einfach ganz spannend zum ersten Mal in einem Raum zu sein, wo nur Schwarze sind. Also mich selbst zu erleben in einer anderen Situation. Keiner kommt auf mich zu. Sonst bin ich immer die einzige Schwarze unter Weißen und entweder die Leute gucken mich an oder sie wollen über ihren Urlaub in Afrika oder sonst was sprechen. Also, ich muss immer auf das reagieren, was mir angeboten wird und musste dann gar nichts machen. Und dass ich, wenn ich in dieser Gruppe von schwarzen Deutschen – und später waren wir in Holland mit schwarzen Menschen unterwegs – wen kennenlernen will, dann muss ich jetzt aber auch was tun. Das war für mich eine neue Situation auf sich selber zurückgeworfen zu sein und nicht auf die Situation als sogenanntes Besonderes oder Anderes zu agieren. … Ich weiß nicht, ob das wirklich eine Art von Heilen ist, sondern es ist vielleicht einfach ein Sich-Auf-den-Weg- machen und sich selber in verschiedener Weise erleben können und dann eben die Möglichkeit haben, mit der Herausforderung eben anders umgehen zu können.

Mathilde: Wie, würdest du sagen, haben sich die Herausforderungen, denen du im Laufe der Jahre begegnet bist, auf die Ziele und Ergebnisse deiner Arbeit ausgewirkt?

Katharina: Damals wurde die Auflage von “Farbe bekennen” von 2000 Stück in über drei Jahre nicht verkauft. Für einen Verlag ist das finanziell natürlich ein Flopp. Aber in der Zeit haben May und ich kontinuierlich Veranstaltungen und sehr viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Ich dachte, wenn ich diese Information wichtig finde, dann muss ich versuchen, viele verschiedenen Leuten damit zu verbinden. Es geht hier um Erfahrungen von einer ganzen Gruppe. May Ayim und ich haben im Anschluss, in den nächsten 10 Jahren, sehr viele Interviews gegeben. Wir hatten mit der Initiative „Schwarze Deutsche“ einen Verein, in dem sich dann viele schwarze Menschen in Deutschland zusammengefunden haben. Wir haben einander vorgelesen aus dem Buch, Poesie-Vorlesungen und andere Veranstaltungen organisiert, um in der deutschen Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass wir da sind und dass wir einen ganz wertvollen Teil dieses Diskurses sind. Und „Farbe Bekennen“ hat deswegen immer funktioniert, weil es in der Gruppe, der Community, funktionierte. Es wurde immer wieder neu gedruckt und insgesamt gab es noch vier Auflagen, die herausgekommen sind. Die Öffentlichkeitswirkung des Buches war sehr groß. Nach wie vor wird das Buch auch von jungen Leuten gelesen.
Dieser Prozess war ganz wichtig. Gleichzeitig war „Farbe Bekennen“ Teil eines größeren Prozesses in der Gesellschaft allgemein und auch in der deutschen Gesellschaft, wo eine Bewusstmachung von Rassismus stattgefunden hat. Es hat in der USA und auch in England angefangen, ich habe dann auch mit Kollegen aus Kanada zusammengearbeitet. Ab da haben wir, habe ich bestimmt über 5 Jahren mindestens zehn Workshops pro Jahr gegeben, um als Gesellschaft zu lernen. Das Thema Rassismus ist sehr erschlagend und trotzdem sind die Fragen nach Definition von Rassismus und dessen Mechanismen wichtig. Zentral ist die Frage: Wie kann ich handlungsmächtig werden?

Die Arbeit haben wir ganz lange gemacht und vor 8 Jahren gab es dann in Deutschland plötzlich eine riesige Diskussion, die wegen Blackfacing geführt wurde. Das war interessant, weil das seit 30 Jahren kaum noch stattgefunden hat. Und dann wurde das „N-Wort“, was noch in vielen alten Kinderbücher steht, wieder diskutiert. Denk da zum Beispiel an Pippi Langstrumpf, ihr Vater war ja in Afrika und da wurde andauernd das „N-Wort“ benützt. Das dritte, was dann in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, war das Racial Profiling; zum Beispiel, dass Menschen nur, weil sie schwarz sind, anders behandelt werden, etwas, was auch meist schwarze Männer betrifft, die werden öfters von der Polizei angehalten. Wie bleibe ich cool, wenn ich wirklich drei Mal die Woche auf der Straße angehalten werde, durchsucht werde und nach Identitätspapieren gefragt werde?
Diese drei Themen, die in diesen Jahren verhandelt wurden, waren, glaube ich, ein Ergebnis aus der Grassroots-Bewegung mit den Aktivitäten um Rassismus-Bewusstmachung. Die Theorie war da schon da und die Diskussion hat dann im nächsten Schritt in einer breiteren Gesellschaft stattgefunden.
Der erste Schritt ist, wenn jemand mit einer Rassismus Vorwurf konfrontiert wird, reagiert die Person meistens mit Ablehnung: „Das stimmt nicht“. Und das ist, was wir als eine riesige Explosion erlebt haben hier in Deutschland. Das ging zurück auf einen ganz kruden Rassismus. Es gab damals schon eine Gemeinschaft um uns herum. Wir hatten ja aus einer positiven Motivation heraus eine Gemeinschaft gegründet. Aber jetzt gab es plötzlich auch eine große Gruppe von Menschen, die die Theorie kannte. Dann ist „Bühnenwatch“ (2011) entstanden mit Happenings und ist mit den deutschen Theatern in Diskussion gegangen ist.

In den 1980-er Jahre ging es mit dem Rassismus-Vorwurf sehr laut zu, es musste ein Tabu durchbrochen werden. Damals wurde es deswegen sehr heftig in den Diskussionen, weil es um gelebte Erfahrungen und Geschichten ging. Aber das war wichtig und gut. Später, mit einer neuen Generation, war es anders, die konnten sich artikulieren, weil sie die Theorie kannten und in Austausch gingen.

Ich habe in den letzten 30 Jahren bemerkt, dass unsere Arbeit gewirkt hat. Die Terminologien haben sich langsam geändert. Das hat lange gedauert, aber irgendwann war es so, dass Leute nicht mehr das „N-Wort“ benützt haben. Dann gab es die Wörter Mischling oder Mulatte. Keiner wusste, wie nennt man sich nun. Jeder hat irgendwie seine eigene Definition gefunden. Und am Schluss verschwand auch ‚farbig‘ aus der Öffentlichkeit, weil Farbe kein richtiges Wort ist, sondern ein Euphemismus, weil man farbig ist. Man wollte bloß nicht schwarz sagen. Also, ein wichtiges Ergebnis von “Farbe bekennen” war eine neue Begrifflichkeit eingeführt zu haben.

Mathilde: Wie ist es dir gelungen, Strukturen zu schaffen, in denen die notwendigen Veränderungen, damit Menschen sich gegenseitig bestätigen und im Kampf zusammenbleiben können, Bestand haben? Deine aktivistische Arbeit war und ist stark geprägt durch das Ermöglichen von Dialog und durch das ‚Platz-Geben“ an und das Schaffen von Auftrittsmöglichkeiten für andere Menschen?

Katharina: In 1997 haben wir Joliba gegründet. Joliba heißt großer Fluss und ist ein Name des Nigers. Das war unser Bild, dass in Joliba ganz viele kleine Tropfen, die zusammenkommen, um etwas bewirken zu können. Es war am Anfang ganz schwer. Deutschland war in den 1980er Jahren ganz gut. Da wurden Projekte gefördert, da wurde Kultur gefördert und als wir angefangen haben, war das leider gerade vorbei und wir konnten deshalb keine finanzielle Ausstattung bekommen. Das heißt, wir waren aufeinander angewiesen. Viele Menschen haben sich ehrenamtlich eingesetzt. Das war schwierig, aber auch ein Vorteil, weil die Menschen, die im Projekt waren, wollten auch da sein, die waren da wegen den Inhalten und Themen.

Joliba ist ein Verein, in dem soziale Arbeit gemacht wird, und auf der anderen Seite auch Kunst und Kultur sehr wichtig ist. Kunst war mir persönlich immer wichtig. Weil Kunst kann wunderbar eingesetzt werden, um dieses Thema zu bearbeiten. Da es bei Rassismus um Traumata geht, um Verletzungen, um Unaussprechliches, ist Kunst eine Möglichkeit, das zur Sprache zu bringen.
In der Kunst ist es möglich, gesellschaftliche Zusammenhänge zu erforschen und auszudrücken.
Und Kunst kann das dann wieder vermitteln an die Gesellschaft. Kunst hat außerdem natürlich auch das Element des Heilens, was als Option mit drin ist: der kathartischen Überwindung von Schmerz und Trennung.

In den USA gab es schon eine Weile den Black History Month, wo über schwarze Kultur und Geschichte informiert wurde, und wir haben vor 12 Jahren einen Black History Month in Deutschland eingeführt. Und als wir dann nach 10 Jahren damit aufgehört haben, kam eine Kollegin zu uns, die gemeint hat, es gibt jetzt so viele schwarze Künstler*innen in Berlin und die haben gar keine Auftrittsmöglichkeiten. Und so haben wir den „Black Basar“ gestartet, wo wir, während fast 10 Jahren, jeden Monat an einem Tag Black History mit Ausstellungen, Performances und im Anschluss noch Musik gemacht haben. Das war wichtig, um zu zeigen: „Schau mal, das ist alles möglich, das gibt es alles.“ Heute gibt es viele andere Institutionen, die unsere Rolle übernommen haben. Savvy gibt es jetzt zum Beispiel und auch andere tolle Institutionen haben unsere Arbeit übernommen. Dann haben wir diesen Teil der Arbeit abgegeben und haben ein Abschlussevent gemacht.

Das ist wie ich an meiner aktivistischen Arbeit herangehe, erstmal immer positive und interessante Elemente zu finden. Ich möchte mich nicht ständig damit auseinander setzen, wie schrecklich die Welt ist. Und wenn du dich mit diesem Thema Rassismus beschäftigst oder du mit mehreren Kulturen zusammenzuleben versuchst, wenn du das positiv in die Gesellschaft hineinzutragen willst, dann musst du eine Motivation finden: Warum will ich das, und wo ist meine Grenze? Das ist, was in Deutschland ein bisschen fehlt, dass die Leute gar nicht wissen, was das bedeutet deutsch zu sein. Aber für die Afro-deutschen war das so, dass sie sich darüber Gedanken machen mussten, weil ihnen das immer abgesprochen wurde.

Diese Konversation wurde im Rahmen des künstlerischen Projektes Assembling Past and Present, für die Ausstellung Women to Go, Das Persönliche und Unpersönliche in Präsentation und Repräsentation, Grassi Museum, Leipzig aufgenommen. Es fand am 26.04.2019 in Berlin statt.