Widerstand als die Befreiung von einem System

Das Center for Intersektionality and Social Policy Studies ist ein gemeinnütziger Verein in Berlin und wurde 2017 von Emilia Roig gegründet. Es wurde gegründet, um zu untersuchen, wie soziale Strukturen und verwandte Identitätskategorien wie Geschlecht, Rasse und Klasse auf verschiedenen Ebenen interagieren und soziale Ungleichheit schaffen. Als erstes Zentrum seiner Art will das Zentrum mit seinen Forschungsprojekten und Initiativen Wissenschaftler und Praktiker aus den Bereichen Rechtswissenschaft, Soziologie, Frauen- und Geschlechterforschung, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und anderen Bereichen zusammenbringen, um das Verhältnis von Intersektionalität in ihrer Arbeit zu erforschen, wirksamere Abhilfemaßnahmen zu gestalten und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen und über soziale Bewegungen hinweg zu fördern.

Mathilde: Emilia, gab es in deinem Leben initiale Momente, wo du gemerkt hast, dass du dein Leben ändern möchtest oder wo du gemerkt hast, dass du der Gesellschaft, in der du lebst, ändern willst?

Emilia: Die Familienkonstellation, in der ich aufgewachsen bin, hat mein späteres Leben beeinflusst und hat zu tun mit den Themen, mit denen ich mich heute beschäftige. Ich selber bin ein Produkt des französischen Kolonialismus. Meine Mutter kommt aus Martinique. Mein Vater ist jüdisch-algerisch und in Algerien geboren. Mein Vater hatte im Kolonialsystem die Stelle eines ‚Kolonisators‘, eines weißen Mannes. Im ‚Teilen-und-Herrschen-System‘ wurden den Juden mehr Rechte gegeben als muslimischen Männern. Da gab es viele Dominanzmuster. Auch innerhalb der Familie gab es Überlegenheit und soziale Hierarchien, die mit Geschlecht zu tun hatten: die Mann-Frau Beziehung oder die Hautfarbe, denn meine Mutter war schwarz, mein Vater weiß. Dazu kam die gesellschaftliche Stellung. Mein Vater war Arzt, meine Mutter ist Krankenschwester. Dadurch gab es viele Dominanzmuster bei uns zu Hause. Als Kind habe ich das beobachtet und es war klar, das ist nicht gerecht. Es hat mir weh getan das zu sehen. Ich habe mich mit meiner Mutter solidarisiert, weil es auch Missbrauch zu Hause gab und ich feststellte, es gibt Ungleichheiten und Ungerechtigkeit. Das war wichtig für mich in meiner Entwicklung.

Da meine Familie in diesem System damals privilegiert war – denn wir hatten ein eigenes Haus gehabt, ich habe ein Instrument gespielt, hatte ein Pony – bin ich als Kind in dieser gesellschaftlichen Stellung groß geworden. Gleichzeitig habe ich bemerkt, dass viele Leuten in der Stadt, in der ich gelebt hatte, diese Dinge nicht hatten. Ich habe mich zum Teil dafür geschämt. Nach der Scheidung meiner Mutter von meinem Vater war mein Mittelschichtsleben vorbei. Mein Vater hat nicht für uns bezahlt und meine Mutter musste arbeiten. Ich habe darunter aber nicht gelitten. Ich fühlte mich eher wohler, auch wenn ich für mein eigenes Geld früh arbeiten musste. Ich bin dankbar, dass ich das so erleben konnte. Es hat mir gezeigt, was Geld im System bedeutet, wie wir dadurch Macht bekommen und wie es uns welche Zugänge ermöglicht. Es wurde mir dadurch klar, dass die strukturellen Umstände, die uns auf dem Lebensweg begegnen, uns eine gesellschaftliche Position verschaffen, die wir schwierig ablegen können. Und dafür können wir nichts. Auch durch noch so viel Arbeit werden Menschen nicht die gleiche Position bekommen. Die Idee, dass die Menschen, die weniger Möglichkeiten im Leben haben, selber schuld sind, ist falsch.

Ich habe dadurch früh verstanden, wie ein Gesellschaftssystem funktioniert. Menschen leben in diesem System ihr Leben und sind wie Teile eines Puzzles, aber sind nicht in der Lage, das System als Gesamtheit zu sehen oder zu ändern. Viele Menschen nehmen das System sogar als objektive Wahrheit, aber das ist sie nicht. Die Frage ist, wenn du das komplexe System in ihrer Ungerechtigkeit einmal verstanden hast, wie du es den Anderen zeigen kannst.

Mathilde: Auf welche Weise bist du aktiv geworden im Kampf gegen diese Ungerechtigkeit?

Emilia: Um diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen, ist es wichtig, die Systeme, die sie instand halten, zu verstehen, um sie aufzubrechen. Ich sehe da drei große Systeme.
Einerseits gibt es da das Patriarchat, das den Wert von Menschen aufgrund des Geschlechts bestimmt. Das System ist die Ursache, dass Frauen in minderwertigen Rollen gehalten werden, was dafür Sorge trägt, dass ihre Stimmen nicht gehört werden.
Dann gibt es den Kapitalismus. Die Akkumulation von Kapital ist ein Konstrukt, weil der Wert von Arbeit und Menschen dadurch bestimmt wird. Zum Beispiel, weiße Männer in Vorstandsetagen von mächtigen Firmen erhalten viel Geld für ihre Arbeit und haben viel Macht. Viel mehr als Frauen (und oft sind es Frauen), die sich um ältere Menschen oder Kinder kümmern und die damit aber eine enorme gesellschaftliche Leistung erbringen, ohne dass das angemessen gewürdigt wird.
Wenn du bei Google den Begriff ‚Professionalität‘ eingibst, dann kommen automatische Bilder von 35-jährigen ,weißen Männer‘, schlank, die aussehen wie ‚Ken‘ (der Partner von Barby). Das sind die Bilder, die wir haben. Da sind so viele Menschen, die in ihrem beruflichen Werdegang von diesen Bildern profitieren, ohne dafür viel machen zu müssen. Die aufgrund ihres Aussehens und Status als mittelalte weiße Männer irgendwelche Stellen bekommen. Sie können mittelmäßig sein und trotzdem können sie sehr viel erreichen, nur, weil sie sehr gut reinpassen oder vom System privilegiert sind, bekommen sie leichter den Job.
Das dritte System ist Rassismus, und auch Kolonialismus, die den Wert von Menschen anhand von vermeintlicher Rassen, die konstruiert werden, bestimmen. Diese Systeme produzieren auch sehr konkrete Ergebnisse und Konsequenzen. Die Überlegenheit der weißen Rasse als Ausgangspunkt in der Ressourcenverteilung, zum Beispiel wie Arbeit verteilt wird (wer macht die Drecksarbeit?). Sorgearbeit wird zum Beispiel unterbewertet. Sorgearbeit ist natürlich mehr als die Sorge, die zu Hause stattfindet. Sorgearbeit, am Arbeitsplatz oder auf der Straße, ist eigentlich Liebe schenken und emotionale Arbeit gehört auch zur Sorgearbeit. Das ist, was wir ständig machen, aber was unsichtbar ist. Das Patriarchat ist Jahrhunderte Jahre alt, das können wir nicht so schnell ändern. Was wir machen können, ist dem mit Liebe und ‚Compassion‘ zu begegnen.
Wichtig ist auch zu verstehen, dass auch Männer unter den patriarchalen Mustern leiden können, auch wenn sie davon profitieren. Manche Männer verpassen und vermissen sehr viel und sind sich dessen nicht mal bewusst.

Mathilde: Welche Rolle spielt das „Center for Intersectional Justice“?

Emilia: Es geht erstmal darum, Menschen den Begriff Intersektionalität(2) näher zu bringen. Menschen, die im institutionellen Bereich arbeiten oder in der Politik sind. Meistens wird das Wort missverstanden oder ist gar nicht bekannt. Die Arbeit, die als erstes zu tun ist, ist Verständnis aufzubauen und Wissen zu schaffen – innerhalb der Verwaltungen, innerhalb der Parteien. Ich glaube daran, dass Intersektionalität transformativ ist. Es bedeutet und es geht darum, Systeme in Frage zu stellen. Wenn wir uns nur auf die Gesetze und Entscheidungsprozesse fokussieren, dann laufen wir Gefahr, an anderen Möglichkeiten vorbeizulaufen.
Es ist wichtig, die Veränderungen, die gerade in der Gesellschaft stattfinden, zu sehen; die alten Muster werden aufgebrochen. Diese Änderung kommt nicht aus der Politik oder vom Gesetz. Es ist eine viel größere Kraft, aber wir wissen noch nicht, wie das neue System aussehen wird. Aber es wird kommen! Wir können dazu beitragen, indem wir nicht gegen das System agieren, dann verbrennen wir uns nur. Daher sollten wir uns eher etwas Positives vorstellen. Wir wollen bewusstseinsändernde Prozesse herbeiführen, Narrative verändern und neue Geschichten erzählen. Der Impact von solchen Sachen ist nicht zu unterschätzen.

Mathilde: Ich las im Feminist Freedom Warriors(1) das Zitat von Anne Braden(2): „In jedem Zeitalter, egal wie grausam die Unterdrückung durch die Machthaber war, gab es diejenigen, die für eine andere Welt gekämpft haben. Ich glaube, das ist das Genie der Menschheit, das, was uns halb göttlich macht; die Tatsache, dass einige Menschen sich eine Welt vorstellen können, die es nie gegeben hat.” Wie kann deiner Meinung nach positiver Widerstand neue Räume öffnen?

Emilia: Die Norm zu konfrontieren ist erschöpfend. Es verlangt eine Mobilisierung vom Verstand her und es aus der Perspektive der Imagination zu artikulieren. Es gibt mehrere Worte, die sehr negativ konnotiert sind. Auf deutsch, auf französisch. Das sind Worte wie “radikal”, “Widerstand”, “Aktivismus” – und warum? Weil die Menschen, die sich dazu bekennen, etwas in Frage stellen. Sie stellen den gesellschaftlichen Status Quo in Frage. Das ist bedrohlich. Das wirkt von außen als aggressiv. Ich möchte das aber anders beschreiben. Widerstand sehe ich als die Befreiung von einem System und die Befreiung von der Seele. Diese Denkweise habe ich von Akteur*innen des Civil Rights Movements in den USA oder überall auf der Welt, wo es wirklich Widerstände gibt. Es ist sehr positiv, weil alles miteinander verbunden ist, weil alles damit reinspielt. Auch was ich in meinem privaten Leben erlebe, spielt in die Gesellschaft hinein. Freiheit wird uns oft dargestellt als etwas Schönes, etwas Leichtes, wie fliegen. Aber Freiheit zu bekommen ist schwer. Es war die schwerste Sache, die ich je durchgemacht habe. Befreiung kostet Kräfte, das ist schmerzvoll. Es gibt konstante Zweifel, Zweifel an sich selbst und an dem Prozess. Aber Befreiung ist positiv, denn wenn sie einmal da ist, heißt es Leben und Liebe.

Liebe ist auch ein Wort, das missverstanden wird, zu eng verstanden wird. Viele denken gleich an romantische Liebe, an Schmetterlinge im Bauch. Aber Liebe ist eine Haltung, das ist eine Entscheidung. Liebe kann sich in allen Bereichen des Lebens ausdrücken: in der Arbeit, in Bezügen mit allen Menschen, auf der Straße. Das ist, was Befreiung bringt. Wenn wir nicht frei sind, können wir Liebe nicht empfinden, nicht erleben, nicht empfangen.

(2)Die Intersektionalitätstheorie bietet ein dynamisches Forschungsparadigma – ein Prisma, von dem aus eine Reihe von sozialen Problemen eingehender analysiert werden kann, um integrative Abhilfemaßnahmen und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen sozialen Bewegungen zu gewährleisten. Die Intersektionalität geht über den traditionellen Rahmen hinaus, der soziale Probleme in diskrete Herausforderungen für bestimmte Gruppen unterteilt. Sie geht von der Prämisse aus, dass Menschen mehrere Identitäten haben und dass sie als Mitglieder von mehr als einer „Gruppe“ gleichzeitig Unterdrückung und Privilegien erfahren können. Die Intersektionalität wirft ein Licht auf die einzigartigen Erfahrungen, die entstehen, wenn sich verschiedene Formen der Diskriminierung mit diesen konvergierenden Identitäten überschneiden. Es handelt sich dabei um eine dynamische Strategie zur Verknüpfung der Diskriminierungsgründe (z.B. Rasse, Geschlecht, Klasse, sexuelle Identität usw.) mit historischen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Kontexten und Normen, die miteinander verflochten sind, um Strukturen von Unterdrückung und Privilegien zu schaffen.

(3)Feminist Freedom Warriors (Feministische Freiheitskämpferinnen), FFW ist ein digitales Videoarchiv, das generationenübergreifende Gespräche über Gerechtigkeit, Politik und Hoffnung mit feministischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen dokumentiert. In dieser Gemeinschaftsarbeit unterhalten sich Chandra Talpade Mohanty und Linda Carty mit Genossinnen und Schwestern im Kampf, während ein Team von graduierten und nicht graduierten Studentinnen kreative, wissenschaftliche und technische Unterstützung leistet.

(4)Anne McCarty Braden war eine amerikanische Bürgerrechtlerin, Journalistin und Pädagogin, die sich der Sache der Rassengleichheit verschrieben hatte.

Diese Konversation wurde am 26.04.2019 in Berlin im Rahmen des künstlerischen Projektes Assembling Past and Present, für die Ausstellung Women to Go, Das Persönliche und Unpersönliche in Präsentation und Repräsentation, Grassi Museum, Leipzig, 2019, aufgenommen.